Chorleben - S-Chorverband

Das perfekte Arrangement

Wie man aus einem Kieselstein einen Diamanten schleift

Sie ist die international erfolgreichste deutsche Band, verkaufte über 12 Millionen Tonträger, die Hälfte davon im Ausland, sie ist umstritten und wird im Januar 15 Jahre alt – die Band Rammstein. Viele ihrer Hits haben Kultstatus.

Ihre Musik wird dem Genre „Neue Deutsche Härte“ zugerechnet, eine Spielart der Rockmusik, die es seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gibt. Wer den Titel „Engel“ nicht kennt, kann ihn entweder als Videoproduktion oder als Live-Version aus Berlin auf YouTube ansehen und anhören. Es ist in jedem Fall interessant, das Original des Songs zu kennen, um die Verwandlungsmöglichkeiten, die ein Text und eine Melodie erfahren, wenn sie das Genre wechseln, besser einschätzen zu können. Die Stimmung der ersten paar Takte erinnert doch stark an den Anfang des Welterfolgs der „Scorpions“ 1989 „Wind of change“  –  wie gesagt, nur die Stimmung des gepfiffenen Vorspanns, nicht die Musik selbst. Denn die wird ganz schnell von den harten treibenden 16tel-Figuren des E-Bass eingeholt. Durchlaufende, sich sequenzerartig drehende und wiederholende Muster sind typisch für Rammstein. Sie sind das Fundament für die Songs der Gruppe.

Darüber taucht dann der 1. Vers auf, deklamiert mit tiefer Stimme, rollendem „r“ und übertriebenen Konsonanten.  Das macht die „Übersetzung“ in die Vokalsprache nicht gerade leichter. Doch wie übersetzt man so etwas? Die beste Übersetzung war schon in der Schule die freie, die sinngemäße. Wortwörtlich ist langweilig, unprofessionell und trifft nur selten die Feinheiten zwischen den Zeilen.

Das Vocalarrangement

Oliver Gies, der zusammen mit Jan Bürger das MAYBEBOP-Arrangement des Titels geschrieben hat, hat auf der Grundlage dieser Vorlage auch das Druckarrangement für den Bosse Verlag verfasst. Er lässt sich gar nicht erst auf ein- oder mehrstimmiges Pfeifen analog zum Original ein – so etwas kann bei Laienensembles auf der Bühne nämlich komplett daneben gehen – er startet mit einem kurzen stimmungsvollen polyphonen Intro auf „du du“ mit versetzten Einsätzen vom Bass bis zum 1. Tenor (jeweils eine Viertel später) – nach vier Takten trifft man sich wieder unisono auf dem Grundton der Tonart „h-moll“. Jetzt kann´s losgehen mit dem ersten Vers, der im Bass beginnt und vier Takte später in den Bariton wandert. Den deklamatorischen Charakter der Verse kontrapunktiert Gies mit ganztaktigen Akkordflächen auf „uh“, die sich vor dem Refrain wieder auflösen. Nach so viel Fläche und Klang schreit alles nach Rhythmus. Er setzt ein mit unterschiedlichen Patterns in den drei Unterstimmen, im Bariton und 2. Tenor nasal verfremdet. Der 1. Tenor hat die Melodiestimme bzw. den ersten Chorus, wie man es nennt. Der Tonumfang dieses Refrains ist relativ gering (nur eine Quinte), er lebt von den neuen Harmonien, der Tonhöhe und dem weicheren Stimmeinsatz.

Jetzt kommt die Stelle, bei der sich das Original mit elektronischen Sounds fortbewegt. Spätestens jetzt beendet Oliver Gies seine Tätigkeit als Arrangeur und wird zum Komponisten. Ab jetzt heißt´s dann aber auch Üben für die Männer – egal ob im Jungen Männerchor oder im Vocalensemble.

Die im Intro angedeuteten polyphonen Strukturen erweitern sich nun zu einem ausgewachsenen Fugendurchgang auf die Silbe „da da“. Da kommen verklärte Erinnerungen an die Swingle Singers auf, denen die Chorszene viele gesungene Cembalostücke von Bach zu verdanken hat.

TIPP: Wie soll man so etwas einstudieren? Wiederholen, wiederholen! Nehmen Sie sich nie mehr als 4 Takte pro Singstunde vor. Das Thema des kleinen Fugato ist sogar nur 2 Take lang und kann – weil für alle Stimmen gleich –  sofort gemeinsam studiert werden. Aber achten Sie darauf, dass alle Phrasierungen von Anfang an mit einstudiert werden. Erst dann bleibt´s im Kopf und macht auch wieder Spaß in der nächsten Singstunde.

Nach diesem hochartifiziellen „Interlude“ wird es rhythmisch noch etwas vertrackter – aber auch hier keine Angst! Es handelt sich stets um wiederkehrende Muster. D.h. wenn man einen oder zwei Takte kann, beherrscht man den Rest. Der 2. Vers liegt jetzt zweistimmig in den Mittelstimmen, was eine erneute Steigerung bringt. Er ist rhythmisch der Höhepunkt des Stückes, denn mit dem 2. Chorus wird es wieder ruhiger. Und im „Outro“ (früher hieß das Coda oder Nachspiel) taucht plötzlich das Pfeifmotiv auf, allerdings nicht gepfiffen, sondern in der Kopfstimme vom 1. Tenor gesungen, während der Bass mit einem wiederkehrenden Saiten-„kch“ zwischen den gesungenen Achtellinien durchmarschiert bis zum Schluss.

Das Klangbeispiel

Um so ein wenig einen Eindruck zu bekommen, können Sie im Internet nachfolgenden Link anwählen.
http://musikdownload.freenet.de/servlets/2452685223801Dispatch/22/call?htmltemplate=./general/prelisten.htm&lmid=5359551

Wolfgang Layer

Ein Leser unserer Zeitschrift SINGEN hat nach Erscheinen dieses Artikels eine sehr emotional gehaltene E-Mail mit unschönen Worten („hirnverbrannter Schwachsinn“) an über zwei Dutzend Adressen innerhalb des SCV geschickt, jedoch bis heute nicht an den Autor des Artikel, der von einem der Empfänger informiert wurde und dem Leser geantwortet hat. Eigentlich wollten wir den daraus entstandenen Briefwechsel in unserer Zeitschrift und im Weblog veröffentlichen. Der Schreiber verbat dies aber aus „urheberrechtlichen Gründen“. Wenigstens die Antworten von Wolfgang Layer sollen Sie lesen können. Die haben zwar auch einen Urheber, aber dem Urheber ist es durchaus Recht, wenn sie erhellend und nicht verletzend wirken. Der Einfachheit halber haben wir sie zusammengefasst.

Lieber Herr B.,

Herr Dreiling hat mir freundlicherweise Ihre Mail weitergegeben, die ich gerne beantworte. Ich war etwas verwundert, dass Sie mich mit Ihrer Kritik vergessen hatten und ich diese über andere erhalten musste.  Der direkte Weg ist immer der überzeugendere. 

Ich hab mir – ehrlich gesagt – lange überlegt, ob ich die Webadresse angeben soll oder nicht, denn mir war schon bewusst, dass Musikvideos dieser Art Diskussionen auslösen. Ich hab´s dann trotzdem getan, um diese Welten, die zwischen dem Original und dem a-cappella-Arrangement liegen, aufzuzeigen.

Ich selbst bin mit meinen 60 Jahren kein täglicher Konsument von VIVA oder MTV, aber ich versuche mich in Sachen Jugendkultur auf dem Laufenden zu halten. Ich denke, dass es für alle künstlerisch tätigen Pädagogen, egal ob Musikpädagogen oder Kunstpädagogen, geradezu eine Pflicht ist, die Entwicklung der Jugendkultur zu beobachten. Es ist auch interessant zu sehen, wie aus der sog. Subkultur immer wieder Anregungen und Querverbindungen in die herrschende Kultur überschwappen. In diesem Fall geschah das durch das Arrangement des vorgestellten Titels.
Man muss, wie Sie völlig richtig schreiben, all diesen Dingen keinen Beifall zollen. Denken Sie zurück, wie es 1954 (Elvis Presley, Bill Haley) war, wie es 1964 (Beatles, Stones) war – jedesmal sahen besorgte Bürger die Kultur und mit ihr die westliche Welt untergehen und heute – heute singen Männerchöre mit Durchschnittsalter 60 „Obladi oblada“ oder „Love me tender“.

Was ich versucht habe, war die Leistung der Arrangeure zu würdigen und nicht Werbung für die Gruppe Rammstein zu mache, Erwähnen musste ich sie freilich schon. Folgende Überlegung hatte für mich Vorrang: steht die Gruppe dem Faschismus nahe oder nicht. Ich habe mich stundenlang darüber sachkundig gemacht und habe genügend Sätze gegen den Faschismus gefunden. Ich bin sicher, dass auch ein Verlag wie Bärenreiter/Bosse die Arrangements sonst nicht veröffentlicht hätte. Den Text finde ich – und ich kann mir einen Vergleich mit vielen anderen erlauben – durchaus poetisch. Das unverständliche Gebrüll von Herrn Grönemeyer oder die pseudovolkstümliche Suppe von Marianne und Michael & Co. sind sicher nicht besser.

Sprache, Gestus und Auftreten entsprechen dem Lebensgefühl einer ganzen Generation. Ich war viele Jahre Musikredakteur beim Sender Freies Berlin und beim Südwestfunk und habe viele Konzerte in Kreuzberg im SO 36 erlebt. Man muss die jungen Menschen gesehen haben, um sie zu verstehen. Ironie gibt es bei ihnen wahrlich keine! Da haben Sie Recht. Woher sollte sie auch kommen? Wer aus der Dunkelheit (Armut, kaputte familiäre Strukturen etc.) kommt, muss den Weg ins Licht selbst finden. Der Titel „Engel“ besitzt allerdings einen kleinen Funken Humor („Oh Gott weiß, ich will kein Engel sein“.) Ihrem letzten Satz in der Klammer stimme ich gerne zu und stelle Mendelssohns Lieder ohne Worte etwas lauter.

Wenn der Text etwas Gewaltverherrlichendes hätte, wäre er nie in SINGEN gelandet. Ich bin mir nicht sicher, wo Sie diese Gewalt entdeckt haben. Im „du du du“ sicher nicht. In dem Satz „Wer zu Lebzeit gut auf Erden wird nach dem Tod ein Engel werden“ ja wohl auch nicht. Ich habe alle Silben und alle Töne noch einmal untersucht nach den von Ihnen „höchst bedenklich“ genannten „Inhalten und Unterströmungen“ und habe nichts gefunden. Das müssten Sie mir schon näher erklären, oder bin ich zu wenig aufgeklärt, um in einem fugato im Stile Johann Sebastian Bachs schlimmes Gedankengut zu entdecken? Nun lassen wir die Kirche mal in A. und halten abschließend fest:

Der von Ihnen kritisierte Beitrag zeigt und will beweisen, dass man aus einem Kieselstein einen Diamanten schleifen kann. Quod erat demonstrandum an besagtem Arrangement. Es ist ein großartiges a-cappella-Arrangement, das es verdient, ausführlich vorgestellt zu werden. Davon verstehe ich was.

In diesem Sinne noch einmal meinen Dank für Ihre Mail – es gibt nichts Schlimmeres, als wenn keine Reaktionen eingehen, vor allem bei strittigen Themen. Ich hab mich über Ihren Beitrag gefreut.

Viele Grüße nach A.
Wolfgang Layer

Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 28. Jan 2009, Chorgattung, Jugendchöre, Singen und Stimme, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.

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