Chormusik mit neuen Augen und Ohren sehen und hören
»Wir müssen Chormusik mit neuen Augen und Ohren sehen und hören.« (Simon Halsey, Leiter des Rundfunkchors Berlin) – Bild aus der Probe „Liederbörse 2008“, Foto: Matthias Heyde
Der Rundfunkchor Berlin geht neue Wege in der Vermittlung von Chormusik
»Wir sind ganz Chor« titelt der Rheinische Merkur (22.05.08) in einem Artikel zur Bedeutung des Chorsingens und erklärt den diesjährigen Sommer zur »Saison der Stimmen«. Ganz groß geschrieben werden darin die sich immer breiteren Interesses erfreuenden Massenfestivals, seien es die großen Sommerfestspiele oder die auch in diesem Jahr wieder einmal pompös und keineswegs sang- und klanglos eingeleitete Europameisterschaft. Selbst die Massenware Film mache sich den Chorgesang in diesem Jahr zu eigen, da die Bregenzer Festspiele Drehort für den neuen James Bond abgeben.
Spielraum Gesang
Während Bond & Co sicherlich ihren Beitrag für die Verbreiterung dessen, was man die Event-Industrie nennt, leisten, so stellt sich die Frage, wie es denn mit dem Anreiz zum Selbersingen, zum Mitsingen, zum Chorsingen bestellt ist? – 50.000 eingetragene Chöre zählt die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC). Das ist beträchtlich, könnte aber bei einer Bevölkerung von über 82 Mio. registrierter Bundesbürger noch mehr sein oder werden. Diesem Ziel, Chormusik populär zu machen und zwar bei einer möglichst großen Bürgerschicht, hat sich eine seit einigen Jahren erfolgreich realisierte Initiative des Rundfunkchor Berlins verschrieben. Das Konzept nennt sich »Broadening the scope of choral music«, was übersetzt soviel bedeutet wie „das Feld der Chormusik zu verbreitern in der Absicht, die Potenziale des Chores in ihrer ganzen Vielfalt zum Ausdruck zu bringen“ – und hiermit sind sowohl das Betätigungsfeld als auch der Spielraum gemeint.
Dies klingt zunächst einmal recht allgemein, umso spezifischer und konkreter stellen sich die einzelnen Projekte dar. Am bekanntesten und am beliebtesten darunter sind vielleicht die so genannten Mitsingkonzerte. Seit 2003 findet diesbezüglich eine Zusammenarbeit zwischen dem Rundfunkchor und unterschiedlichen Laiengruppierungen statt. Die Zahl der teilnehmenden Gäste stieg von zu Anfang 200 auf 1500 sprunghaft an und das große Interesse, an diesen außergewöhnlichen Ereignissen dabei zu sein, führte dazu, dass die Plätze bereits ein halbes Jahr vor den Konzerten ausgebucht sind. Nicht zuletzt aufgrund der mitreißenden und motivierenden Weise, in der Chefdirigent Simon Halsey die Proben leitet, wird die Zusammenarbeit mit einem der großen Chöre Deutschlands zu einem unvergesslichen Erlebnis. Die Sängerinnen und Sänger schwärmen vom Gemeinschaftsgefühl, das sich binnen kurzer Zeit ergebe und dabei an der Entstehung von etwas „Ganzem“ mitwirke. Im April diesen Jahres wurde Verdis Requiem mit der Kraft und dem Volumen von 1500 Stimmen im großen Saal der Philharmonie in Berlin zur Aufführung gebracht. Das Projekt für 2009 wird Mendelssohn-Bartholdys »Elias« sein und die Plätze sind zu einem großen Teil bereits belegt. Erstmals sind im kommenden Mitsingkonzert auch 200 Berliner Schülerinnen und Schüler beteiligt.
Die Zukunft des Publikums
Simon Halsey, der die Tradition der Mitsingkonzerte aus seinem Heimatland Großbritannien mitgebracht hat, weiß wovon er spricht, wenn er mit Blick auf die Zukunft das Publikum als ersten Ansprechpartner auf die Bühne zitiert: »We need to build up a-cappella-audiences in the future. And we have to do it by making connections with each member of our audience.« („Wir müsssen uns für die Zukunft ein A-Cappella-Publikum schaffen und das geht nur durch Kontakt zu jedem einzelnen Mitglied der Zuhörer.“) Wer eignet sich als Zielgruppe besser, wenn nicht die an den Darbietungen des Rundfunkchors interessierten Gäste? – Möglicherweise diejenigen, die noch zu jung sind, um ein eigenständiges Interesse an Konzert und Konzertbesuchen zu entwickeln, diejenigen, denen es vielleicht schwer fällt zu entscheiden, ob sie das mit dem Singen in der Schule gut finden oder doch eher uncool. Die Teilnahme an der vom Rundfunkchor in Zusammenarbeit mit diversen Schulchören veranstaltete Liederbörse, bleibt da vielleicht als einschneidendes Erlebnis und als „Pluspunkt“ fürs Singen hängen. 500 Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren aus elf Berliner Schulen bestritten Ende Januar diesen Jahres das dritte Konzert dieser Art. Auf dem Programm standen Lieder zu den Vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Schüler hatten fünf Monate Zeit sich vorzubereiten, unterstützt von Sängern des Rundfunkchors. Die Teilnahme an einer Probe des Chors ließ sie außerdem hautnah miterleben, wie die Profis arbeiteten. Am Ende stand eine Tages-Gesamtprobe mit dem Chefdirigenten Halsey, die den Schülern nicht nur einen Einblick gab, sondern sie regelrecht Eintauchen ließ in eine disziplinierte Arbeit an der eigenen Stimme.
»Musik entwickelt Kreativität und Kognition, soziale und psychomotorische Fähigkeiten und fördert Konzentration, Lern- und Leistungsbereitschaft«, so die Motivation des Rundfunkchor Berlins, sich den diversen Schulprojekten zu widmen. Neben der Liederbörse gibt es die so genannten Schülerkonzerte, die in einer Vorbereitungsphase sowohl LehrerInnen- als auch Schüler-Workshops mit einschließen. Monique Mead, die für Konzeption und Durchführung verantwortlich zeichnet, geht es darum, gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern Strategien zu erarbeiten, die auch die Projektmotivation betreffen, um ihnen die Arbeit mit den Schülern zu erleichtern. Im Anschluss daran kommen SängerInnen des Rundfunkchors ins Klassenzimmer, stellen ihre Arbeit vor und leisten Hilfestellung bei der Erarbeitung des Konzertprogramms.
„KlangKulturen“
In der Saison 2007/2008 rief die Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Berlin, kurz roc Berlin, die interkulturelle Konzertreihe „KlangKulturen“ ins Leben. Die auch von Kulturstaatsminister Bernd Neumann gewürdigte Reihe verbindet Musik aus Orient und Okzident und setzt auf eine Vermittlung zwischen den Musikern beider Kulturkreise. Anfang des Jahres musizierte der Rundfunkchor mit Chor und Orchester des Konservatoriums für Türkische Musik in Berlin, unter der Leitung von Simon Halsey und Nuri Karademirli. Auf dem Programm standen christliche und islamische Feiertagslieder. In der Saison 2008/2009 wird die Reihe fortgesetzt mit zwei Konzerten zu sephardischer Musik im Mittelmeer-Raum und einer europäisch-persischen Musikbegegnung.
Chor in neuen Kontexten
»Broadening the scope of choral music« ist jedoch noch in einem weiteren Sinne zu verstehen. Zu Bachs und auch zu Mozarts Zeiten, meint Simon Halsey, sei es selbstverständlich gewesen, zeitgenössische Musik zu spielen. Heute aber müssten wir auf der Hut sein, unsere Kultur nicht zu einer Museumskultur werden zu lassen. Deshalb setze sich der Rundfunkchor Berlin insbesondere auch dafür ein, neuer und aktueller Musik den Weg auf die Konzertbühnen zu ermöglichen. Dies geschieht zum großen Teil in Form von Auftragswerken an namhafte Komponisten aus der ganzen Welt, jedoch mit einem Schwerpunkt deutscher Herkunft, darunter Wolfgang Rihm, Klaus Huber und Christian Jost. In der kommenden Saison werden drei der bereits aufgeführten Werke mit sehr unterschiedlichen Akzenten wieder aufgegriffen. Zum Konzept gehört es, die Werke gerade auch mit ungewöhnlichen Orten zu konfrontieren wie alten Industriegebäuden oder lokalen, kleinen Kunstzentren. Nicht nur wird es auf diese Weise möglich, neue Räume auszuloten, auch ein neues Publikum tut sich auf, das vielleicht seinen Weg nicht in die großen, „heiligen“ Konzertsäle fände.
Drei Beispiele, drei unterschiedliche Verbindungen
In Rodion Shchedrins »Der versiegelte Engel« liegt der Akzent auf der Verbindung von Chorgesang und Tanz. In der Inszenierung des Berliner Choreographen Lars Scheibner wird der Chor selbst zum Akteur, der sich durch den Raum bewegt und die von den Tänzern dargebotene Geschichte mitveranschaulicht. Die in der Nachfolge Rachmaninows stehende, klanglich nicht weniger wuchtige orthodoxe Liturgie wird in der kommenden Saison gleich an zwei Orten zu hören und sehen sein und zwar beim World Symposium on Choral Music in Kopenhagen, bei welchem der Rundfunkchor Berlin als einziger deutscher Chor den professionellen Chorsektor vertritt und im baskischen San Sebastian, jeweils in Zusammenarbeit mit dem KielBallett. Auch hier gilt es, neue Publikumsschichten für das Interesse an Chormusik zu erschließen, gerade auch zumal, Halsey zufolge, die Tanzszene als außerordentlich umtriebig und offen erachtet werden kann.
Ein vollkommen anders geartetes Werk haben wir mit Christian Josts Choroper »Angst – 5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst« vor uns, die das komplexe Thema von fünf sehr unterschiedlichen Warten aus dramatisch, dichterisch, dokumentarisch bis hin zu wissenschaftlicher Auseinandersetzung auffächert. Jost hat mit seiner Choroper in gewisser Weise ein neues Genre geschaffen, denn die Darbietung obliegt allein dem Chor, in der auch dessen szenische Kapazitäten hervortreten. Kombiniert wird die chorische Erzählung mit Lichtkunst und Filmausschnitten, so dass die Aufführung zu einem multimedialen Erlebnis wird. Jost, der in der kommenden Spielzeit composer in residence der Komischen Oper Berlin ist, hat mit der vom Rundfunkchor in Auftrag gegebenen Oper ein seitens der Presse vielbeachtetes Werk geschaffen, das in der Neuinszenierung von Jasmina Hadžiahmetovi? zu sehen sein wird.
Das dritte, klanglich und räumlich neue Wege beschreitende Werk, das in der kommenden Saison in der Deutschen Erstaufführung zu sehen sein wird, ist die Johannes-Passion des schottischen Komponisten James MacMillan. Wiederum liegt hierbei ein Akzent auf den chorischen Partien, jedoch nicht allein auf dem großen, üblicherweise den Solisten gegenüberstehenden Chor, sondern ebenso auf einem vierstimmigen Erzählerchor, welchem in MacMillans Werk die Evangelisten-Partie übertragen ist. Daneben findet sich als einzig solistisch besetzte Partie der von dem Bariton Mark Stone dargebotene Christus. Bereits die Aufteilung zwischen nur einem Solist und zwei Chören unterschiedlicher Größe kann als ungewöhnlich angesehen werden. Dazu kommt, dass in der szenischen Uraufführung die von Lars Scheibner choreographierte Passionsgeschichte auch räumlich ausgelotet wird. Auf einem schmalen Bühnengrat thematisiert Scheibner die Problematik von Leib und Körper, darin der christlichen Idee der Doppelnatur Gottes folgend.
Mareike Layer exklusiv für SINGEN UND STIMME
Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 19. Jun 2008, Chorgattung, Fortbildungen, gemischte Chöre, Singen und Stimme, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.