Ohne Leuchttürme fahren irgendwann auch keine Schiffe mehr vorbei
Jubel für das SWR Vokalensemble Stuttgart beim Landes-Musik-Festival
Es war ein wunderbares Fest, das Landes-Musik-Festival in Nagold. Der Blasmusikverband Baden-Württemberg e.V. als Ausrichter hatte 5 Tage vor Sommerbeginn alles auf die Wetterkarte gesetzt. Spiel, Satz und Sieg. Wir werden in der Doppelausgabe August/September der Zeitschrift SINGEN ausführlich über den Tag berichten. Vorab ein Rückblick auf das Abschlusskonzert mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart, das am 5. September um 13.05 Uhr im Mittagskonzert von SWR II gesendet wird.
Die überfüllte Nagolder Stadtkirche zeigte, dass man chorisch nicht nur mit Mendelssohn, Schumann und Brahms Hallen füllen kann. Das Interesse an zeitgenössischer Musik ist groß, vor allem dann, wenn außergewöhnliche Programme geboten werden. Wo stehen wir Chöre musikalisch? In welche Richtung geht die sog. Kunstmusik? Welche Themen und Stoffe beschäftigen zeitgenössische Komponisten? Aber eben auch: Wie komponieren sie? Wie entsteht dieser farbige Chorklang, farbig wie gebrochenes Licht? Die Antwort gab in einer Benefizveranstaltung zugunsten der Stiftung „Singen mit Kindern“ und der „Dr. h.c. Gerhard Weiser-Stiftung“ einer der besten Chöre der Welt, das SWR Vokalensemble Stuttgart. „Spektrales Leuchten für Chor a cappella“ hieß das Motto fürs Festkonzert des Landes-Musik-Festivals. Chorleiter war der Däne Morten Schuldt-Jensen, Moderation: Dorothea Bossert.
Die Chorredakteurin des SWR präsentierte die insgesamt 12 Chorwerke mit einer idealen Mischung aus Informationen über Komponisten, Textdichter, Werke, Musik- und Zeitgeschichte. So wünscht man sich jedes Konzert moderiert: intelligent informativ und unterhaltsam.
Das „spektrale Leuchten“, das musikalische Ausloten vokaler Farben, begann natürlich nicht erst in der Zeit der Romantik. Die Spätromantiker verschoben die Gewichte Form, Melodie und Harmonie schließlich immer mehr Richtung Klang, im sich tonal befreienden 20. Jahrhundert bis hinein in feinste Intervallchanges und Glissandi. Vom schwedischen Nationalkomponisten Hugo Alfvén (1872-1960) weiß man, dass er für seinen Chor eine Menge Volkslieder bearbeitet hat. Viele dieser schwedischen Volkslieder haben bekanntlich Weltkarriere gemacht, z.B. im Jazz („Ack Värmeland, du sköna“); denn nicht alle kommen zum Glück so wanderfreudig daher wie „Im Frühtau zu Berge“. Alfvéns viel gesungenes Lied „Abendstimmung“ ließ die Abendsonne auf den Wellen glitzern und sich spiegeln, getragen von der tänzerischen Leichtigkeit einer 6/8-Bewegung, die nie körperlich wurde. Einen 6/8-Rhythmus so transparent und schwebend zu singen, ist einem Laienchor erst möglich, wenn er die Rahmenbedingungen musikalischer Ordnungspolitik, will sagen den Takt, weit hinter sich gelassen hat und eingetaucht ist in die hierarchische Überordnung des Rhythmus.
Wilhelm Stenhammars (1871-1927) drei Chorstücke „Tre körvisor“, nicht minder in der tonalen bis modalen Volksmusik seines Heimatlandes verwurzelt, boten im ersten Satz feinste Schattierungen von Pianissimo. Der zweite Satz „küsst das Meer von Rosen und Lilien“ im geheimnisvollen „Garten des Serail“. Wer ihn nicht kennt, der sollte einfach mal nachfolgenden Link anklicken, leider nicht mit dem SWR Vokalensemble, aber auch vom Feinsten: http://www.youtube.com/watch?v=Dlw6lwjzm5o – Mit dem augenzwinkernden Seufzen des Mannes, der lange um sein Problem „herumsingt“, bis er sich outet, gerne eine Frau gehabt zu haben, schloss der Zyklus und mit ihm die von der schwedischen Folklore gespeisten vokalen Klangfarben, die vielen Chören Synonym sind für nordische Chormusik.
Dem „spektralen Leuchten“ verband sich nun zunehmend das zweite Thema des Abends, die „Liebe“. Wie vertont man im 20. Jhdt. ein Shakespeare-Sonett für Chor a cappella, genauer gesagt das 18.„Shall I compare thee to a summer´s day?” Der schwedische Jazzkomponist und Pianist Nils Lindberg (*1933) tat es im Stil der “Singers Unlimited”, in chromatisch schillernden und modulierenden Wellenbewegungen. Mischt man die Jazzstilistik der 50er Jahre mit einem Schuss Neoklassizismus von Igor Strawinsky, landet man bei einer Fassung des berühmtesten Liebegedichts Shakepeares (aus dem 2. Akt von „Romeo und Julia“) „O Mistress Mine“, einer Chorfassung des Engländers Herbert Murrill (1909-1952). Um die Vorstellung ein wenig zu unterfüttern, kann ich im Internet das Bristol University Madrigal Ensemble anbieten mit dem Link: http://soundcloud.com/madrigalensemble/murrill-o-mistress-mine Man braucht freilich schon eine ätherische Solostimme wie die von Johanna Zimmer im SWR Vokalensemble, um das „h2“ an den Sopranhimmel zu tupfen.
Der schwedische Akkordeonist Fritz Sjöström (1923-1996) hat zeitlebens vor allem für sein Instrument komponiert, aber auch Lieder und Chansons geschrieben. „Söt blomma“ ist so eines, von Gunnar Eriksson für Chor bearbeitet. Mit einem Teppich aus Quint und Sekunde beginnt es, aus dem irgendwann der Cantus firmus in der Mittelstimme hervorlugt, und es wäre kein Eriksson, wenn bei aller genialen Kunstfertigkeit und Durchsichtigkeit das originale Lied verloren ginge. Man glaubt das Meer und den Seetang förmlich zu riechen in der schweren Julisommerluft. Eine weitere Bearbeitung vernetzt den Norden mit den Farben des Impressionismus. Clytus Gottwalds Bearbeitung des Mallarmé-Gedichts „Soupir“ aus Maurice Ravels drei Liedern.
Wenn man nun auf die Spektralfarben des Programmtitels Bezug nimmt, dann wird es mit Dänemarks bedeutendstem lebenden Komponisten Per Nørgård (*1932) zum ersten Mal richtig „nordlicht“. Für sein Schaffen sind mathematische Elemente wie der goldene Schnitt oder die „Spektralharmonik“ von großer Bedeutung. Sein Chorsatz „Strandmohn“ eignet sich für das Verständnis zeitgenössischer klangorientierter Musik, die nicht auf Melodie setzt, sondern auf das, was Arnold Schönberg mit dem Begriff „Klangfarbenmelodie“ beschrieben und vorweggenommen hat. Diskantreiche Akkorde, stechend wie die Feuerblume, Intervallreibungen, Klangballungen die zerfallen – all das setzt ein neues Hören voraus, das sich in einem Laienchor nur dann entwickeln kann, wenn ihm das Verständnis für die Entwicklung vorausgeht und – die „Gehörbildung“ im wirklichen Sinne des Wortes.
An dieser Stelle noch einmal ein Kompliment für die Moderation und das Manuskript der Chorredakteurin Dorothea Bossert. Darum braucht die Laienmusik die Professionals. Wer die Spitze der Pyramide nicht sieht, wird glauben, er sei bereits oben angelangt. Diese Spitze verlagert sich aber von Epoche zu Epoche. Viele Chorkonzerte, vor 40 Jahren mit Andacht genossen und als einzigartig empfunden, hätten heute keine Chance mehr, an einem nationalen oder internationalen Wettbewerb teilzunehmen. Die Entwicklung ist rasant. Es „klafft“ auch nichts auseinander. Die Vielfalt in der Spitze entspricht derjenigen in der Breite. Entscheidend ist das aktive Singen im Chor, das Bewusstsein für das, wofür man sich entschieden hat, ob chorische Gebrauchsmusik oder traditionelle oder zeitgenössische Chormusik.
Zwischen Nørgård 1 und Nørgård 2 mit dem seit seiner Uraufführung berühmten „Wiegenlied“, dem aufwühlenden Psychogramm des schizophrenen Schweizer Malers und Dichters Adolf Wölfli (1864-1930) , entführten die Kindheitserinnerungen des dänischen Komponisten Jörgen Jersild (1913-2004) „Mein Lieblingstal“ auf einen homophonen Klangtrip.
Die letzten drei Kompositionen von Sven-David Sandström (*1942), Gustav Mahler (1860-1911) und John Rutter (*1945) bewegten sich mit Ausnahme von Sandström nicht stilistisch, aber thematisch einen Schritt weiter ins Licht – ins ewige Licht. Der Schwede Sandström lässt Texte aus der Geheimen Offenbarung des Johannes 21,1-5 sozusagen im Kosmos wiederhallen. Wenn Gott am Schluss spricht: „Siehe, ich mach alles neu!“, wiederholt der Chor diesen Satz ein ums andere Mal, bis hin zum tieftönigen Geräusch, das an die Grenzen des Universums zu kratzen scheint. Versprechen oder Drohung? Leben oder Tod?
In der der großen englischen Oratorientradition eines Edward Elgar steht John Rutter mit seiner „Hymne an den Schöpfer des Lichts“, die mit einer prägnanten 7-Tonreihe (heilige Zahl) beginnt und im breiten Choral endet. Zwischen Rutter und Sandström war für das Vokalensemble etwas zu leisten, was eigentlich nicht zu leisten ist, weil der Gaumen feucht und der Atem so ruhig und gleichmäßig sein sollte wie nur möglich. Wie sollte sonst die Entrückung möglich sein im Friedrich-Rückert-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, vertont von Gustav Mahler, in der wirklich entrückten Bearbeitung von Clytus Gottwald. Es war dennoch aller Bewunderung wert, wie dieser Ausnahmechor den musikalischen Weg hinüber in die Unendlichkeit fand unter der Leitung seines wunderbaren Chordirigenten Morten Schuldt-Jensen, eines Eriksson-Schülers, eines souverän gestaltenden, stets mit atmenden Leiters.
Die chorische Laienmusik braucht Ausnahmechöre wie das SWR Vokalensemble. Denn ohne Leuchttürme werden eines Tages aus den Schiffen Fischerboote. Was ist „Laienmusik“? Auf keinen Fall Musik mit Abstrichen! Vielleicht passt folgender Vergleich: Laienmusik ist Autofahren ohne Führerschein, nur legal. Die einen kommen bis zur nächsten Kreuzung, die anderen bis Wladiwostock. Aber alle wollen fahren und ihr Ziel erreichen. Nicht alle haben gleich viel Zeit dafür. Viele nur 90 Minuten jede Woche. Na und?! Meine Stimme, das bin ich, ob Stadtauto oder Limousine, Cabrio oder Geländewagen. Wolfgang Layer
Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 18. Jun 2012, Chorgattung, gemischte Chöre, Singen und Stimme, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.