Chor in Bewegung – Die Wiedergeburt des öffentlichen Singens
Die größte aktuelle Bürgerbewegung ist vielleicht nicht Stuttgart 21, sondern die Chorbewegung. Die Arbeit des Rundfunkchor Berlin setzt mehr denn je auf eine Verbreiterung der Chorarbeit über alle fixen Horizonte hinweg.
Politik des Singens
Er musste nicht erst das Bundesverdienstkreuz erhalten, um zu zeigen, dass es ihm ernst ist mit seiner Politik des Singens. Die Rede ist von Simon Halsey, dem Chefdirigenten des Rundfunkchor Berlin, der seit 2000 einen der mittlerweile besten Chöre der Welt zu immer neuen Horizonten führt. Eines der noch in den Kinderschuhen steckenden Projekte, das aber schon jetzt viel versprechend klingt, wird den Chor buchstäblich in Bewegung versetzen. Geplant ist für Februar 2012 eine nah am Text orientierte multidimensionale Aufführung des „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms. Die Erfahrung des eigenen Körpers beim Singen, der auch in der Chorarbeit noch immer nicht überall die gleiche Aufmerksamkeit erfährt, und die Erfahrung des Gesamtkörpers Chor sollen dabei im Zentrum des Projekts stehen, meint der sichtlich begeisterte Künstlerische Leiter des beteiligten Sasha-Waltz-Ensembles Jochen Sandig. Ziel ist es, Chor und Publikum einander anzunähern, so dass ein gemeinsamer großer ‚Raum’ entstehen kann. Deshalb steht das bekannte Werk auch unter dem Motto seines alternativen Titels: „Human Requiem“.
Die Renaissance der Chormusik
Was es bedeutet, in einem Chor zu singen oder überhaupt mit der Stimme Erfahrungen zu sammeln, steht nicht jedem zu Gebote. Auch wenn von Simon Halsey ganz richtig beobachtet wird, dass wir in einer Renaissance der Chormusik leben und das, weil eine ganze Generation gesagt hat, dass wir eine Renaissance brauchen. Die Renaissance hat jedoch noch längst nicht jeden erreicht. Und deshalb sind Initiativen wie das neue Pilotprojekt SING! aus dem „Broadening the Scope of Choral Music“-Programm des Rundfunkchor Berlin so wichtig. Es sind kleine Schritte, aber sie führen weiter, was an anderer Stelle längst erprobt und institutionalisiert wurde – denken wir an das Chor:klassen-Projekt – : Das Singen von klein an und für jedermann, ohne Vorkenntnisse, im unbedarftesten Grundschulalter. Seit Februar diesen Jahres wird in drei Berliner Grundschulen die Musikarbeit von GrundschullehrerInnen in besonderer Weise gefördert.
Die Idee der Patensänger
Unterstützt durch je eine/n PatensängerIn des Rundfunkchors, gilt es drei Schwerpunkte auszuloten. Die Entwicklung eines interkulturellen Liedgutes: Hier soll den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit geboten werden, sängerisch kulturelle Vielfalt zu erleben, im Miteinander aber auch und in besonderer Weise vermittelt über die Musik und Sprache ihrer unterschiedlichen Herkunftsländer. Bewegung und Hören: Es geht um den eigenen Körper, die Verbindung von Bewegung und Singen und das genaue Hinhören, zu dem das Singen, auch ohne Notenpapier, stimuliert. Lebendige Erfahrungen mit der vokalen Bühnenkultur: Während die Hörerfahrungen vor der Erfindung des Tonträgers dem gemeinsamen Musikmachen und Live-Erlebnissen von Konzerten entsprachen, sind es heute vermehrt digital bearbeitete und komprimierte Stimmklänge der Popkultur, die das Spektrum des Erlebbaren verengen und vereinseitigen. Ein natürlicher Stimmklang, der durch eine ökonomische Stimm- und Atemführung erzeugbar ist, wird von Kindern paradoxerweise vermehrt als unnatürlich, teils sogar mit Scham verbunden, wahrgenommen, heißt es in der Beschreibung des Projekts, das von Fachleuten begleitet wird.
Das Projekt „Sing up“
Seit 2000 gibt es in Großbritannien das Projekt „Sing up“, das eine Wiederauferstehung des Singens im Grundschulbereich initiierte. Damit auch in Deutschland Halsey´s Traum, jedem Kind in der Grundschule das Singen zu ermöglichen und nahe zu bringen, irgendwann in Erfüllung gehen wird, braucht es noch einige Unterstützung, auch und gerade in der Werbung für die Chorarbeit. Ein richtig großer Wurf ist da die erste nationale Chormesse Deutschlands, die „chor.com“, die vom 22. bis 25. September in Dortmund aus der Taufe gehoben wird. Natürlich wird dort vor allem gesungen werden, in unzähligen Workshops, Konzerten und sicher auch zwischendrin. Darüber hinaus erwartet die Sängerinnen und Sänger zudem Fachhilfe. Alle großen Musikverlage haben ihre Teilnahme mit Ständen angemeldet. Ein ganz besonderes Erlebnis aber werden die Darbietungen von und mit den Profis sein. Vom Rundfunkchor Berlin wird der „Passionsbericht des Matthäus“ von Ernst Pepping zu hören sein und zur Mitarbeit fordert am Nachmittag des 24. Septembers das „Deutsche Requiem“ von Brahms auf, das am Abend desselbigen Tages zur Aufführung gebracht werden wird.
Dirigent ohne Studium
Simon Halsey, der Chefdirigent des Rundfunkchor Berlins, hat nicht studiert, so wie viele andere bekannte britische Dirigenten, die ihre Jugend in den 1970ern verlebten. Halsey ist von unten in die Musik hineingewachsen, dirigierte bereits im Alter von vierzehn Jahren, und ihm war und ist es stets ein Anliegen gewesen, für Musik zu begeistern. 1986 hatte der Brite mit einigen Mitstreitern die „Association of British Choral Directors“ (abcd) ins Leben gerufen, ein den Zielen nach mit dem „Deutschen Chorverband“ vergleichbarer wenn auch kleinerer Verband. Diese Arbeit liege ihm sehr am Herzen, bekennt Halsey. Deshalb ist ihm auch die Unterstützung der ersten deutschen Chormesse ein Anliegen. Und für die Zukunft meint er: Wenn wir hier in Berlin helfen können bei dieser Arbeit, dann will ich sehr gerne.
Interkulturell
Das „Broadening the Scope of Choral Music“-Programm macht nur einen Teil der Arbeit des Rundfunkchor Berlin aus, aber einen wichtigen und stetig wachsenden, wie auch das neu gegründete „Fest der Kulturen“ und die „Interkulturelle Chornacht“ zeigen. Dass Singen dabei immer mehr sein kann als ‚singen’, weiß der musikalische Leiter des Chors aus eigener Erfahrung zu berichten. Im Rahmen seiner Arbeit mit türkischen Chören singt und dirigiert Halsey seit Jahren türkische Lieder und hat so allein über die praktische Erfahrung von Sprache und Klang ein Stück der fremden Mentalität kennen gelernt, so dass er sich heute im Gespräch etwa dem türkischen Taxifahrer näher fühlt. Musik bringt communities zusammen, meint Halsey.
Damit aber können nicht nur kulturelle Unterschiede gemeint sein, Musik und insbesondere das gemeinsame Singen verbindet quer beet, über alle Fremdheiten, seien sie sozial, unterschiedlichem Alter oder unterschiedlichen Lebensformen geschuldet, hinweg.
Mareike Layer
Simon Halsey ist Artist in Residence bei der chor.com im September in Dortmund. Der Schwäbische Chorverband wird mit mehreren Autoren hier im Blog direkt von dort berichten.
Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 27. Aug 2011, Chorfeste, Fortbildungen, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.