Am Ende bleibt die Emotion
Singen mit Demenzkranken – Eine Einführung von Katrin Schwarz
Die Gesellschaft hat die Jugend entdeckt. Tatsächlich und als Postulat der Jugend als immerwährend und ewig. Das Dogma der Aktivität, der Flexibilität, der Fitness, des Interesses an allen möglichen und unmöglichen Dingen von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter hat uns fest im Griff. Der Markt der Kindheit und Jugend ist riesig: Kulturanbieter, Freizeitaktivitäten, ganze Wirtschaftszweige (angefangen bei der „Hochkultur“, endend bei eher profanen Dingen wie Spielzeug, Bekleidung bis hin zum Tourismus). Das hat nämlich Zukunft.
Der Markt der postulierten Jugendlichkeit auch. Silversurfers, das 3. und 4. Leben, die Generation der Grauen, welche die Welt bereisen und keinen Kulturevent auslassen. Die gleichen Angebotspaletten wie für die Kleinen, adaptiert für die Bedürfnisse der älteren Großen. Das hat nämlich auch Zukunft. Mitmachen kann man, solange man fit, mobil, aktiv ist, mithalten kann, den anstrengenden Anforderungen, die man selbst/die Gesellschaft an einen stellt, gewachsen ist.
Kann man das nicht mehr, zeigt man sich besser nicht mehr. Zeigt man sich zwangsläufig nicht mehr. Darf man sich nicht mehr zeigen?
Da bereitet der Anblick von Tante Else, die leicht bekleidet in Nachthemd und Hausschuhen durch die Fußgängerzone spaziert, schon Schwierigkeiten. Weil sie einfach nicht mehr weiß, wie man normalerweise durch die Fußgängerzone geht. Oder was eine Fußgängerzone überhaupt ist. Oder Oma, die im Pflegeheim vor sich hindämmert. Die vergessen hat, dass sie Oma, Mutter, Ehefrau war, die ihre eigenen Kinder nicht mehr erkennt, die in Unkenntnis ihrer eigenen Identität in die Grauzone der Selbstvergessenheit geraten ist, in der nicht mehr viel von der früheren Person erkennbar ist.
Nicht mehr von der Person. Aber vom Mensch. Und wir werden bei genauer Beobachtung immer wieder auf Elemente zurückverwiesen, die spezifisch menschlich, eine menschliche Eigenart sind. Der Mensch erscheint als gestalterisches, als schöpferisches Wesen, egal, wie es um die Gesamtleistungsfähigkeit bestellt ist. Ein singendes Wesen. Tief beeindruckend sind Zitate von Pflegekräften, auf die ich in der Vorbereitung für diesen Artikel gestoßen bin. Eines sei an dieser Stelle zitiert:
„Ein tief beeindruckendes Erlebnis während meiner Krankenpflegeausbildung war der Gottesdienst auf einer geriatrischen Station, bei dem ich hochbetagte Patienten, die ich aus dem Pflegealltag sonst nur mit starken körperlichen und geistigen Behinderungen kannte, plötzlich mehrere Strophen von Kirchenliedern fehlerlos singen hörte – Menschen, die ihre Erinnerung zu großen Teilen verloren hatten, über ihr eigenes Leben kaum mehr etwas wussten, manchmal noch nicht mal ihren eigenen Namen nennen konnten und bei der die Verständigung überwiegend nicht mehr über Sprache möglich war, beherrschten auf einmal lange Texte: das hatte was von einem Wunder!“ (Damman)
Musik bietet offensichtlich andere, weitreichendere Möglichkeiten, wo Sprache und Handlungserinnerung versagt. Das musikalische Gedächtnis scheint tiefer und fester verankert zu sein.
Wir alle kennen aus eigener Erfahrung die Situation, dass uns eine Melodie im Kopf ist, an deren Quelle man sich zunächst nicht erinnern kann. Beim Singen aber können die damit verbundenen Gefühle, Situationen, vielleicht sogar die passenden Wörter ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Musik hat ein wichtiges Element, das sie mit Sprache gemein hat: den „Ton“. Erst der richtige „Ton“, der Ausdruck, das Emotionale hintern den Wörtern, das „wie“ des Gesagten, macht eine Aussage unmissverständlich. Und so wird klar, dass Musik viele nutzbringenden Möglichkeiten im Umgang mit Demenzkranken bietet. Wie genau die Musik dies macht, wurde bis zum jetzigen Zeitpunkt leider wenig untersucht. Bisherige Forschungen attestieren bislang in beeindruckendem Ausmaß die überprüfbare Tatsache der günstigen Einflussmöglichkeiten durch Musik.
Was kann Musik im praktischen Umgang mit Demenzkranken leisten?
Musik bietet eine alternative Form an, um Zeit zu strukturieren. Insbesondere Musiktherapie bietet den Patienten einen von außen vorgegebenen Sinn für zeitliche Kohärenz an, der innerlich nicht mehr zur Verfügung steht.
So bietet das Musizieren die Möglichkeit, zunächst den Tagesablauf zu strukturieren, indem immer die gleichen musikalischen Rituale stattfinden. (vgl. Damman)
Viel weitreichender ist aber die zeitliche Kohärenz hinsichtlich des autobiographischen Gedächtnisses der Patienten. Es lässt sich ein durchgehend positiver Einfluss auf das autobiographische Gedächtnis nachweisen, und zwar unabhängig vom Bekanntheitsgrad der verwendeten Musik. Ergebnisse verschiedener Studien, die Geräusche vorspielen, die mit Aktivitäten verbunden sind, zeigen, „dass auditive Reize nicht nur die Erinnerung an den speziellen Handlungsablauf stützen, zu dem das jeweilige Geräusch gehört, sondern dass sie die Erinnerung an die gesamte Aktivität erhöhen.“ ( Aldrige).
Unterstützung der Kommunikationsleistungen. Demenzpatienten reagieren nachweislich auf musikalische Reize. Da Kommunikation ihrem Wesen nach – wie oben beschrieben – musikalisch ist, spielt die Welt der Musik eine wichtige Rolle im Leben der Patienten.
Was leistet speziell das Singen (zusätzlich zum bereits Ausgeführten) im Umgang mit Demenzkranken?
Das Singen ist nachweislich ein vitales und wirkungsvolles Mittel, um die Teilnahme alter Menschen an geeigneten Behandlungen zu fördern. Singen kann den funktionalen Bedürfnissen über ein breites Spektrum von Fähigkeiten und Störungen hinweg entsprechen.
Singen erhöht die Lebensqualität. Beim Singen werden aus Kranken plötzlich „Normale“, die den eigentlichen „Normalen“ unter Umständen sogar überlegen sind. Pfleger und Angehörige können einen Zugang schaffen, der sich nicht immer um Krankheit oder das, was die Patienten nicht mehr können dreht, sondern es werden Stärken in den Mittelpunkt der Handlung gestellt.
Als Form aktiven Musizierens ist das Singen für die Gesundheit und das Wohlbefinden alter Menschen ungemein wichtig. Auch bei Menschen deren Stimmumfang und -qualität begrenzt sind, kann aktives Singen nachweislich durch die positiven psychologischen, physiologischen und sozialen Komponenten gesundheitsfördernd wirken.
Für Menschen mit progressiv fortschreitenden Krankheiten kann Singen Kontinuität im Zerfall der eigenen Fähigkeiten bieten und so fester Bestandteil des Behandlungsprogramms werden. Im Falle, dass Palliativpflege notwendig wird, bietet Singen Erleichterung und menschlichen Kontakt. Menschen, die durch Krankheit oder funktionalen Zerfall in höchstem Maße geschwächt sind, reagieren immer noch auf Gesang. „Singen ermöglicht es dem Betreuten, bis zum letzten Moment dazuzugehören, und es bietet dem Betreuenden zugleich einen Berührungspunkt.“ (Aldrige).
Wie intensiv und stark solche Kontakte sein können, berichten viele Angehörige, die selbst die letzten Tage naher Verwandter u.a. sängerisch begleitet haben. „Etwas brachte uns immer wieder zum Staunen: Mutters Melodien-Gedächtnis funktionierte noch ausgezeichnet, als ihr Sprachvermögen schon völlig zerstört war. … Sie konzentrierte sich während des Singens völlig und strahlte dann hinterher so glu?cklich, dass wir von dieser Freude angesteckt wurden. Manchmal gelang es sogar, zweistimmig zu singen. Noch drei Tage vor ihrem Tod sang Mutter eine Zeile von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“ mit. Das war unser Abschiedsgespräch.“ (Götte, Rose & Lachmann).
Singen kann also einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur therapeutischen Behandlung alter Menschen leisten. Dies geschieht sowohl über aktive Teilnahme als auch über passives Zuhören. Singen hat verschiedenen Dimensionen: es schafft Verbindung zur persönlichen Geschichte und stellt Kontakt zu anderen Menschen in der Gegenwart her. Es schafft Aktivität und gleichzeitig ist es allen zugänglich, die es als Trost und Beruhigung wünschen. Und das wichtigste: Die persönliche Identität und Würde des Einzelnen wird stets anerkannt. Denn beim Singen sind alle gleich.
Lediglich gibt es eine Einschränkung: „Das vielleicht größte Hindernis für die Teilnahme am Singen ist die kulturelle Befangenheit, die Singen ablehnt oder gar verbietet. Bis zu dem Tag, an dem Singen als Form aktiven Musizierens für jeden – ungeachtet seines Alters oder seines Körper – kulturelle Billigung findet, muss die Teilnahme von jenen ermutigt und unterstützt werden, die seinen Wert zu schätzen wissen.“ (Aldrige)
Hier sind wir als Mitglieder der Chöre und Verbände gefragt. Ob als Verein oder auch als Einzelperson. Sänger und Sängerinnen können sich in dieser wertvollen Arbeit aktiv engagieren und Vorbild sein. Es ist eine gesellschaftliche Herausforderung, tätig zu werden. Und eine menschliche Notwendigkeit. Denn wenn wir als Vereine und Verbände uns verschließen, bleibt – zumindest momentan – wenig Hoffnung für die musikalische Arbeit in diesem Bereich.
Und übersehen wir nicht, dass jenseits aller Therapieansätze und Handlungsmöglichkeiten eines wichtig ist: Die Zuwendung an Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Die nicht mehr funktionieren, wie es erwartet wird. Diese Zuwendung, die Zeit, das Gemeinsame beim Miteinander-Singen, ist Nährboden für die Seele. Denn am Ende bleibt die Emotion.
Literatur:
Dammann, Michael. Musik im Umgang mit Demenzkranken nutzen.
Fachschulen, Qualifizierung & Professionalisierung, Berlin 2002
(Selbstverlag).
Aldridge, David. Musiktherapie in der Behandlung von Demenz. In: Music Therapy
World, Witten 2004.
Götte, Rose & Lachmann, Edith. Alzheimer – was tun? Eine Familie lernt, mit der Krankheit zu leben. Weinheim, 1997.
Susanne Landsiedel-Anders.?Ein Triptychon: Fallstudie eines schwerdementen Altenheimbewohners?Interne Evaluation einer musiktherapeutischen Behandlung mit Hilfe quantitativer und qualitativer Methoden, Frankfurt am Main, 2003.
Weiterführendes Interessantes:
Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie:
http://www.musiktherapie.de bietet interessantes Downloads und Forschungsergebnisse zum Thema
Musik im Alter – Musikgeragogik:
http://www.musikgeragogik.de/ neues Fachgebiet für Musikpädagogik und Geriatrie
Ambulante Musiktherapie: http://www.musikaufraedern.de/ spannendes Konzept
Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 9. Feb 2010, Chöre 50+, Fortbildungen, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.