Chorleben - S-Chorverband

Karrierestart Chor (11) – Fragen an Prof. Ulrike Sonntag

Die Gespräche in der Reihe „Karrierestart Chor“ führt Sabine Layer. Sie finden umfangreiche Auszüge aus dem Interview in der Zeitschrift SINGEN, Ausgabe 4-2013, S. 10

Gefeierte Sopranistin, international renommierte Gesangspädagogin, geboren und musikalisch aufgewachsen in Esslingen am Neckar. Heute hat sie eine Professur für Gesang an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart inne.

Zunächst die obligatorischen drei Fragezeichen: Welches ist Dein liebstes Chorstück?

Ohne nachzudenken kommt mir „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ aus dem Brahms Requiem in den Sinn. Das berührt mich immer sehr.

Welches Volkslied aus Kindertagen fällt Dir spontan ein?

„Der Kuckuck und der Esel“ – vor allem die letzte Strophe gefällt mir besonders: „Da sangen alle beide…..“

Was bedeutet Singen für Dich?
Die direkteste und persönlichste musikalische Ausdrucksmöglichkeit, das Zusammenfließen von vielen meiner Interessen (Musik, Sprache, Darstellung, Kreativität), Begeisterung und immerwährende Faszination, tiefe Befriedigung und Glück.

Sabine Layer (SL): Viele Chöre werben neue Mitglieder mit dem Slogan „Singen kann jeder“. Wie ist Deine Meinung zu dieser Aussage?
Ulrike Sonntag (US): Grundsätzlich und bis zu einem bestimmten Niveau: Ja! Zumindest sollte jeder Mensch das Singen einmal kennengelernt und ausprobiert haben. Aber sicher gibt es unterschiedliche Begabungen und, dadurch bedingt, Möglichkeiten, wie weit man seine Stimme, die Musikalität und das Gehör entwickeln kann.

SL: Gleichmäßige Atemführung, deutliche Artikulation, stabile Intonation – all das sind Ziele, die im Gesangsstudium angestrebt werden, und die auch ein Chorleiter seinen SängerInnen setzt. Wie siehst Du eine professionelle Gesangsausbildung im Verhältnis zur Stimmbildung für Laienchorsänger? Ist das Handwerkszeug dasselbe, und nur der Grad der Verfeinerung unterschiedlich?
US: Die grundlegenden Anforderungen sind sicher zunächst dieselben, aber dann ist es doch ein sehr großer Unterschied. Eine solistische Stimme soll ein individuelles Timbre, sehr gute Tragfähigkeit, mehr Volumen und Vibrato haben, das widerspricht dem Gesetz der Homogenität im Chor. Für eine große Partie in der Oper braucht man außerdem einen viel höheren Einsatz des Körpers, das heißt eine über Jahre hinweg trainierte starke Atemstütze und gute körperliche Kondition. Im professionellen Bereich hat Singen auch eine sportliche, athletische Komponente.

SL: Laienchorsänger stehen oft auf dem Standpunkt: „Ich habe keine solistischen Ambitionen, also brauche ich keine Stimmbildung.“  Wie wichtig ist die Stimmpflege durch regelmäßiges Üben, auch und gerade für ältere Stimmen?
US: Ich finde Stimmpflege auch für Laienchorsängerinnen und –sänger sehr wichtig. Zunächst einfach für die Gesunderhaltung der Stimme und die Spannkraft des gesamten Körpers. Schließlich ist für die Reinheit und Ausgewogenheit des Gesamtchorklangs jede einzelne Stimme und ihre Fähigkeit, sich dem Klang der Stimmgruppe anzupassen und ihn gleichzeitig mitzugestalten, bedeutsam.

SL: Der handwerkliche Aspekt ist also genau so wichtig wie die Entwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten und die Fähigkeit zur Darstellung von Emotionen. Warum ist es oft so schwer, die richtige „Technik“ für die eigene Stimme zu finden? Liegt es daran, dass man sein „Instrument“ nicht sehen kann?
US: Erstens das, und zweitens hört man sich selbst nur verfremdet über das Innenohr. Die Stimme ist ständig vielen Einflüssen unterworfen und in stetiger Veränderung, fühlt sich jeden Tag anders an und ist kein fertiges gebautes Instrument. Jede Stimme bringt individuelle Voraussetzungen mit, und es gibt kein Patentrezept, das für alle gilt. Man ist daher mehr als bei allen anderen Instrumenten auf Anleitung und Korrektur durch die erfahrenen Ohren der Lehrerin oder des Lehrers angewiesen. Wenn man jung ist, kann man selbst auch gar nicht einschätzen, wohin die eigene Stimme sich entwickeln könnte, für welche Partien sie einmal in Frage kommen könnte.

SL: Wie hat sich Dein eigenes Stimminstrument entwickelt? Hast Du von frühester Kindheit an gesungen? In der Familie, in der Schule, in Chören?
US: Ja, wir haben in der Familie gesungen, vor allem in der Weihnachtszeit. In der Grundschule wurde das Singen auch gepflegt, und vor allem später am Georgii-Gymnasium in Esslingen – im Unterricht und ganz besonders im Chor unter der Leitung von Dieter Aisenbrey. Auf den Chor- und Orchesterfahrten wurde auch viel im Bus und zur Gitarre gesungen. Ich hatte ein eigenes dickes Buch, vollgeschrieben mit Texten von französischen Chansons und internationalen Songs! Dann hatte ich das Glück, unter Kirchenmusikdirektor Werner Schrade in der Jugendkantorei und im Esslinger Kammerchor zu singen, im Kammerchor Stuttgart unter Frieder Bernius und im Württembergischen Kammerchor unter Prof. Dieter Kurz. Das alles waren sehr prägende, intensive Chorerlebnisse.

SL: Das kann ich bestätigen. Auch meine Jahre in den beiden Esslinger Chören unter Werner Schrade waren intensive Lehrjahre, und letztlich habe ich bei Werner Schrade auch das Korrepetieren „gelernt“, übrigens als erstes Werk das Brahms Requiem… Wann hat sich Dein Wunsch gefestigt, professionelle Sängerin zu werden? Gab es ein Schlüsselerlebnis?
US: Als ich in meinem Schulmusikstudium ungefähr im 3. Semester die Arie der Mimi (La Bohéme) ausprobiert habe, war’ s um mich geschehen an der Stelle: …ma quando vien lo sgelo… (…aber wenn es taut…)! Da habe ich gespürt, wie sehr mich diese Verbindung von Gesang und Schauspiel fasziniert, und dass ich das auf jeden Fall versuchen muss!

SL: Ja, diese Stelle ist auch wirklich unglaublich, wie ein Sonnenaufgang nach langer Nacht! Was waren denn die wichtigsten Stationen Deiner Karriere?
US: Es fällt mir schwer zu sagen, welche die wichtigsten waren. Ich hatte so viele schöne Aufgaben! Meine Karriere begann ja noch als Studentin mit einem unvergesslichen Erlebnis- dem überraschenden Einspringen für Helen Donath unter Helmuth Rilling an der Hamburgischen Staatsoper. Dann ging es für intensive Anfängerjahre an die Bühnen nach Heidelberg und Mannheim, bis ich dann von Wolfgang Gönnenwein an die Stuttgarter Staatsoper engagiert wurde. In Stuttgart waren Höhepunkte die Micaela mit Neil Shicoff in der Regie von Saura unter Navarro, die Nedda mit Atlantow unter Zedda, Donna Elvira unter Schönwandt, die Pamina in der Neuinszenierung von 1990, “ Die Verkaufte Braut“ und das Ännchen in der Freyer-Inszenierung. Bei den Ludwigsburger Festspielen sang ich das Ännchen in der Loriot-Inszenierung und die Pamina in der Manthey-Inszenierung. In Wien waren wichtige Stationen die Zdenka mit Kiri te Kanawa als Arabella und die Susanna im Figaro mit Renée Fleming als Gräfin und Bo Skovhus als Graf. Aber auch viele Male Marzelline, Musetta, Pamina, Donna Elvira, und Micaela mit tollen Partnern.
Daneben habe ich auch immer Oratorien gesungen (um nur zwei Höhepunkte zu nennen: Matthäus-Passion unter Peter Schreier in Los Angeles, 9. Sinfonie unter Karabtchevsky in Sao Paulo). Und ich gab viele Liederabende im In- und Ausland, auch mit moderner und zeitgenössischer Musik: Das „Marienleben“ von Hindemith beispielsweise sang ich in Berlin, Mannheim, Mailand, Salzburg, Bern, beim Bodensee-Festival und in Madrid.

SL: Heute widmest Du einen Großteil Deiner Zeit und Kraft der Ausbildung von jungen Sängerinnen und Sängern. Würdest Du sagen, dass es heutzutage schwieriger ist, Karriere zu machen, als beispielsweise zu Zeiten von Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau?
US: Ja, auf jeden Fall! Die Konkurrenz ist wirklich enorm groß, durch die Mobilität und Globalisierung strömt eine riesige Zahl von gut ausgebildeten Sängerinnen und Sängern von überall auf der Welt auf den europäischen, vor allem deutschen Markt. Die staatlichen Mittel gehen aber zurück. Viele Agenten machen schon gar keine Vorsingen mehr, weil sie übervoll sind und fast keine Angebote haben. Es gibt so viele arbeitslose Sängerinnen und Sänger wie nie zuvor. Selbst die kleinsten Theater sind außerordentlich wählerisch, bis sie jemanden engagieren (trotz geringer Gagen). Die Ansprüche an stimmliche Perfektion sind durch die starke Medienpräsenz und die verbesserte technische Qualität auch deutlich höher. Außerdem legt man im Zeitalter des Regietheaters sehr großen Wert auf das äußere Erscheinungsbild und die darstellerischen Fähigkeiten.

SL: Und worauf legst Du in der Ausbildung Deiner Studenten besonderen Wert?
US: Mir ist sehr wichtig, dass jeder sein individuelles Potenzial entwickelt, das heißt, dass die Stimme frei und flexibel in allen Lagen und Lautstärken in Oper, Oratorium und Lied eingesetzt werden kann in Verbindung mit musikalisch differenziertem Ausdruck, Textverständnis und Textverständlichkeit.

SL: Erzählst Du uns eine Anekdote aus Deinem Berufsleben?
US: Als ich in Mannheim im Engagement war, wurde ich eingeladen, einen Galaabend mit dem italienischen Tenor Alberto Cupido zu geben, eine große Ehre für mich als  junge Sängerin. Nach der Probe am Samstagabend wurden wir fein zum Essen eingeladen, und ich genoss eine leckere Forelle. Allerdings spürte ich plötzlich, dass etwas in meinem Hals piekste. Nach vergeblichen Versuchen, die Gräte mit Wasser und Brot in Bewegung zu versetzen, wurde schließlich klar, dass ich professionelle Hilfe brauchte. Also fuhren wir zur Heidelberger HNO-Uniklinik. Wir klingelten dort gegen 22.30, eine freundliche Nachtschwester öffnete ein Fenster im 1. Stock, zu dem ich dann hinaufrief: „Ich bin Sängerin, habe eine Gräte im Hals und morgen ein wichtiges Konzert!“ Die Antwort: „Um Gottes Willen!“ öffnete uns die Tür. Der Assistenzarzt begann leicht zu zittern und fing an, in meinem Hals zu suchen, aber er behauptete dann, da sei nichts, ich würde mir das einbilden! Ich insistierte, zeigte ihm die Stelle, und siehe da: die Gräte kam zum Vorschein, ein Prachtexemplar von mindestens 3 Zentimetern Länge! So konnte der Galaabend stattfinden.

SL: Zum Glück! Womit beschäftigst Du Dich denn in Deiner Freizeit?
US: In meiner knapp bemessenen Freizeit widme ich mich gern meinen Freundschaften, die mir sehr wichtig sind. Auch versuche ich, meinen Mann Jonas Balena in seiner Bildhauerschule in Metzingen zu unterstützen. Ich begeistere mich für Literatur und sehe leidenschaftlich gern Filme. Möglichst regelmäßig gehe ich in einen Yoga-Kurs und habe schon mehrere Seminare für Anusara Yoga und 5 Rhythmen Tanz besucht – eine tolle Kombination und ein echter Jungbrunnen! Außerdem freue ich mich, dass ich im Ensemble für Tanztheater in Ludwigsburg beim Improvisationstraining mitmachen darf.
Eine große Leidenschaft von mir ist das Reisen und die Neugier auf fremde Kulturen. In den letzten Jahren waren mein Mann und ich in Kambodscha und in Sri Lanka und sind um viele Eindrücke reicher zurückgekehrt. Fast eine zweite Heimat ist die Insel Lanzarote für uns geworden – dort tanken wir neue Kräfte.
Da mir ein soziales Engagement auch schon immer am Herzen lag, bin ich seit knapp 2 Jahren im Club Soroptimist International Stuttgart, der größten internationalen Serviceorganisation berufstätiger Frauen, in der wir uns in Förderprojekten für die Wahrung der Menschenrechte, Gleichheit, Entwicklung und Frieden, vor allem für Mädchen und Frauen, einsetzen.

SL: Und jetzt hätte ich gern noch ein schönes Schlusswort!
US: Je älter ich werde, umso mehr  begreife und schätze ich, wie sehr mein Leben durch die Musik und die nie versiegende Begeisterung für den Gesang reich und lebendig ist.

SL: Ich danke Dir sehr herzlich für das Gespräch!

(Das Interview führte Sabine Layer, stellvertretende Musikdirektorin des Schwäbischen Chorverbands)

Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 26. Mrz 2013, Chorverband Karl-Pfaff, Fortbildungen, Nachwuchsarbeit, Singen und Stimme, Themen, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.

©2022 - Chorleben - Weblog des Schwäbischen Chorverbandes, Eisenbahnstr. 59, 73207 Plochingen, Tel: 07153 92816-60Die Seite für alle Sänger und Sängerinnen - Chöre, Chorvereine, Chorverbände - Kontakt - Impressum - AGB - Datenschutz Projekt: agentur einfachpersönlich