Chorleben - S-Chorverband

Schwergewicht oder Leichtgewicht – wie wichtig ist UNSER FRIEDRICH SILCHER für Chöre?

Die Bedeutung Friedrich Silchers in der neueren Musikwissenschaft bis heute – Ein Abriss

Friedrich Silcher ist mit über 300 Volksliedbearbeitungen sicherlich einer der bedeutendsten Volksliedsammler des 19. Jahrhunderts. Für traditionelle Chöre sind seine Bearbeitungen von Volksliedern wichtiger Teil des Repertoires. Die Veröffentlichungen von Noten und Tonmaterial halten immer noch an. Doch wie steht es um die wissenschaftliche Forschung? Hat sein Werk hier Bedeutung für die Nachwelt, ist er auch heute noch Bestandteil der Forschung?

Wissenschaftliche Arbeiten zum 200. Geburtstag

Zu Ehren des 200. Geburtstag Friedrich Silchers fand 1989 in Tübingen am Institut für Musikwissenschaft eine Ausstellung über den ersten Universitätsmusikdirektor statt. Begleitend dazu gab der Initiator und Ordinarius des Institutes Dr. Manfred Hermann Schmid einen Ausstellungskatalog und eine Aufsatzsammlung zu Leben und Nachleben Friedrich Silchers heraus. In seinem Vorwort schreibt er: „Sein Titel lautete Universitäts-Musikdirektor, sein Beruf: Volkserzieher“. Sein pädagogisches Wirken scheint also bedeutend in die Nachwelt hineinzuwirken. Viele seiner Volksliedkompositionen wurden aus pädagogischem Ansinnen, beispielsweise als Unterrichtsstücke oder zur Anpassung der Werke an die Fähigkeiten seiner Alumnen und die Gegebenheiten in den Chören, geschrieben.

Die Aufführungspraxis

Im selben Jahr fand in der Bundesakademie Trossingen ein Symposium statt, welches sich stark mit musikpraktischen Aspekten F. Silchers beschäftigte. Dr. Hermann Josef Dahmen, langjähriger Leiter des Silcher-Archivs in Schnait, mahnt davor Silcher als „weltfremden Traumtänzer“ zu sehen. In seinen zwei Referaten zeigt er mehrmals auf, wie Silchers Volksliedsätze durch kunstvoll gemeinte Interpretationen geradezu entstellt werden. Die schlichten Volksliedsätze seien eher zum „Vor-sich-Hinsingen“ als für kunstvolle Aufführungen geeignet, in den meisten Aufführungen war dieses Empfinden allerdings nicht gegeben, so Dr. H.J. Dahmen.
Um diese Aussage herum gruppieren sich die Vorträge der weiteren Redner mit Schwerpunkten auf einzelne Schaffensformen Silchers. Erich Valentin widmet sich in seinem Vortrag Silchers Sololied. Etwa 150 davon hat er verfasst, dennoch war die Wissenschaft diesen bisher aus dem Weg gegangen.

Die Liedforschung

Nachdem im Jahr 1992 Dr. H. J. Dahmen ein ausführliches Werkverzeichnis veröffentliche, erschien im Jahr 2002 mit der Dissertation Martina Rebmanns über das Sololied in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Württemberg wieder eine wissenschaftliche Arbeit zu diesen eher unbekannten Kompositionen Silchers. Martina Rebmann beschäftigte unter anderem sich mit dem Einsatz von Liedern in Friedrich Silchers Unterricht. Aus den Überlieferungen eines Schülers wissen wir, dass Friedrich Silcher stets Wert legte auf einen gefühlvollen aber einfachen, ungezierten Vortrag der Lieder. Die Leistungen als Chorleiter und Musikerzieher sind sicherlich überragender als die kompositorischen Silchers, so Dr. Rebmann heute. Allerdings ist die kompositorische Leistung durch die Schrift besser ersichtlich.

Sammeln für die Nachwelt

In einer Zeit, in der das Volkslied langsam in Vergessenheit geriet, begann Friedrich Silcher dem Volk zuzuhören und diese zu sammeln. Im Gegensatz zu vielen vor ihm, beispielsweise Johann Gottfried Herder oder Wolfgang von Goethe, schrieb er nicht nur Texte, sondern auch die Melodien auf. Ohne diese wertvolle Arbeit wären viele der Melodien traditioneller Lieder heute wohl unbekannt. Seinen eigenen Liedkompositionen liegen zumeist Texte zeitgenössischer Dichter zugrunde, von denen er viele persönlich kannte. Silcher schien es auch von Bedeutung immer wieder andere Autoren zu vertonen, seinen Sololiedern liegen Texte von etwa 60 Dichter zugrunde. Durch seinen volksliedhaften Stil schaffte er es die Texte an die Menschen heranzutragen. Durch sein breites Schaffen spannt er einen einmaligen Bogen zwischen der hohen Kunst und der täglichen Gebrauchsmusik.

Doch in den letzten Jahren ist es scheinbar still geworden in der Silcherforschung. Ist diese am Ende angekommen? Gibt es heute noch ein Interesse der Wissenschaft an Friedrich Silcher? Was bleibt von seinem Wirken? Dazu befragte Johannes Pfeffer für die Zeitschrift „SINGEN“ Prof. Dr. Manfred Hermann Schmid. Er ist seit 1986 Professor am Institut für Musikwissenschaft der Universität Tübingen, der Wirkungsstätte Friedrich Silchers. Er ist unter anderem Herausgeber der beiden Bücher zur Jubiläumsausstellung 1989, sowie der Denkmäler der Musik in Baden-Württemberg.

SINGEN: Welche Bedeutung hat Silcher für die Nachwelt allgemein und worin liegt diese?

Prof. Schmid: Seine Hauptbedeutung sehe ich in seiner Funktion als Volkserzieher, wenn ich das so allgemein sage. Also es kam ihm darauf an die Menschen zu bilden und gerade auch die Schichten zu bilden, die ganz bildungsfern waren. Also die Menschen ganz allgemein an Bildung heranzuführen, auch über Musik eben. Wesentlich über Musik. Das berührt sich mit den Bildungsidealen auch von Pestalozzi, Erziehungsidealen und natürlich auch was Musik angeht von Nägeli in der Schweiz. Also das ist gewissermaßen sein Fundament. Und dafür schafft er Musik, dafür schafft er auch theoretische Dinge, theoretische Texte, eine sehr viel vereinfachtere Notenschrift mit Ziffern, solche Dinge. Also er möchte breite Schichten erreichen im Sinne von Bildung. Und in dem Zusammenhang stehen auch die Gründungen von Chorverbänden und Sängervereinen.

SINGEN: Inwiefern ist die Wirkung des Volkserziehers heute erkennbar und nachvollziehbar?

Prof. Schmid: Das Faktum, dass es an deutschen Schulen Musikunterricht gibt, geht mit auf Silcher zurück. Für uns ist es völlig selbstverständlich, dass in der Schule Musik unterrichtet wird. Das gilt für andere Länder nicht so konsequent, nicht einmal für Italien. Also das ist der eine Standpunkt, das Anliegen ist unverändert aktuell, die Methode wie man das macht das ändert sich natürlich, man muss ja die Menschen heute erreichen. Das kann man mit der Musik von Silcher zum Teil immer noch, zum Teil muss man ganz andere Musik wählen. Aber die Ideen gewissermaßen, die wirken weiter.
Das andere, eher spezifische ist, dass er auch was tun wollte für die Universität. Und er hat etwas geschaffen, was heute brandaktuell ist, was man Gesprächskonzert nennt. Also das musiziert wird und gleichzeitig dazu etwas erklärt wird. Das hat er eingeführt und er hat nicht nur die zeitgenössische Musik, die er natürlich immer gepflegt hat, gemacht, sondern auch historische Musik. Das war in seiner Zeit völlig neu, Musik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu machen, Madrigale von Marenzio beispielsweise, und das verbunden mit historischen Kursen, wie er das nannte. Und aus diesen historischen Kursen ist die Musikwissenschaft erwachsen. Also er gehört auch im weitesten Sinne zu den Mitbegründern des Faches Musikwissenschaft. Dass es die hier in Tübingen gibt geht ja ganz konkret auch auf ihn zurück.

SINGEN: Es ging ihm also darum die Musik dem Volk auch im Sinne von Verständnis nahe zu bringen, nicht nur ästhetisch?

Prof. Schmid: Im Sinne von Verständnis und dann natürlich auch für die, die sich wirklich qualifizieren wollen und die das als Studien betreiben möchten, also dann Musikwissenschaft machen möchten.
Und dieser wissenschaftliche Aspekt einer höheren Bildung wurde auch dadurch anerkant, dass er ein Ehrendoktorat erhielt.

SINGEN: Was fehlt noch in der Forschung zu Friedrich Silcher bis heute?

Prof. Schmid: Was ganz dringlich ist, es gibt reichliche Arbeiten zu seiner Chormusik und den Arbeiten für die Sängerbünde, was sehr viel weniger bekannt ist sind alle seine anderen Werke. Sie haben die Dissertation von Frau Rebmann zurecht erwähnt, was das Klavierlied angeht, wo er wichtiges geschaffen hat, was man gar nicht kannte.
Dann vor allem seine Tätigkeit als Aufführender ist noch kaum untersucht, das ganze Repertoire, was er aufgeführt hat. Er hat zu Beethovens Lebzeiten Beethovens Symphonien in Tübingen aufgeführt, das war damals schon das modernste vom Modernen. Hat es selber eingerichtet, wenn ein Instrument fehlte etwas arrangiert, also so diese ganze Tätigkeit die zeitgenössische Musik aufzuführen, das ist ein riesiges Verdienst. Und das ging bei all seinen Nachfolgern weiter, wenn sie denken, dass sein Nach-Nachfolger Emil Kauffmann Erstaufführungen von Bruckner in Tübingen gemacht hat oder auch von Berlioz. Und das reicht bis zu den Interessen, die der heutige Amtsinhaber mein Kollege Hiller hat, der ja auch immer wieder versucht Gespräche zu führen mit zeitgenössischen Komponisten und Werke aufzuführen und auch zu erklären.

SINGEN: Für die Chöre ist ja doch die Sammelarbeit und Bearbeitung von Volkslieder von entscheidender Bedeutung. Wie wichtig ist das für die Musikwissenschaft?

Prof. Schmid: Das ist ungeheuer wichtig, das lag früher weitgehen außerhalb der Perspektive des Faches, weil man nur Heroen-Geschichtsschreibung machte, nur Beethoven und Brahms und so weiter, und die Verbreitung der Musik hat man nur am Rande verfolgt. Das ist ja heute ganz anders. Es ist auch ein halb soziologisches Thema, also das was man nennen kann die Verbürgerlichung von Musik. Da spielt er eine zentrale Rolle und das ist etwas, was für die Wissenschaft für das Begreifen von Geschichte im frühen 19. Jahrhundert von allerhöchster Bedeutung ist.

SINGEN: Wären die Volkslieder ohne Silcher überliefert?

Prof. Schmid: Das hätte sich ohne Silcher auch gebildet, zunächst ausgehend von Texten, und es gab Textsammlungen oder Textfiktionen natürlich auch wie des Knaben Wunderhorn, und es gab im bayrischen Johann Andreas Schmeller, der richtig konsequent Textforschung betrieben hat. Sowas gab’s auch sonst. Aber die ungeheure Popularisierung vor allem durch die Musik, die hat Silcher geleistet und die Verbindung von einfachen Melodien mit seinen Sätzen, die ja was verblüffen ambivalentes haben, nämlich sehr artifiziell sind aber das nicht zeigen, diese Scheinnaivität, das ist etwas ganz eigentümliches und besonderes. Hängt natürlich auch damit zusammen, dass das Volkslied, wie wir das nennen, letztlich eine Fiktion ist – ein Kunstprodukt.

SINGEN: In seiner heutigen Form?

Prof. Schmid: Ja im deutschen fast generell. Echtes lebendiges Volkslied, wie es das zum Teil in anderen Kulturen immer noch gibt haben wir nicht mehr. Die Kontakte, gewissermaßen das Lebendige ist abgerissen und wird längst gepflegt in der Schrift.

SINGEN: Wie bedeutend ist Silcher für Komponisten nach ihm?

Prof. Schmid: Das kann ich schwer einschätzen. Es ist ja ein großes Problem bei Silcher, in der modernen Rezeption, auch für die modernen Musiker und auch für die modernen Menschen gilt er ja als erzkonservativ und altmodisch und eventuell sogar nationalistisch, bringt man ihn mit dem bismarckschen Reich in Verbindung. Das ist historisch alles gar nicht richtig. Historisch gehört er der Freiheitsbewegung an, den Liberalen und denen die nach deutscher Einheit strebten und zwar liberaler. Also das hat sich allerdings dann, die Rezeption, mit dem 1870er Reich verändert und er bekam diesen Touch, der ihm eigentlich gar nicht zukommt. Das nebenbei.

SINGEN: Gab es in der Silcherforschung entscheidende Wendepunkte oder ist das ein Prozess?

Prof. Schmid: Das müsste man untersuchen. Ich übersehe das nicht, ich nehme es nur wahr, dass es eintritt dieses Phänomen. Wann und wodurch das sich gebildet hat müsste man noch untersuchen.

SINGEN: Welche Bedeutung hat F. Silcher für Sie ganz persönlich?

Prof. Schmid: Also ich liebe dieses naiv sentimentale, das sich mit einer merkwürdigen Art von Traurigkeit auch verbinden kann, gerade wenn es um irgendwas erfreuliches geht, bringt es so eine merkwürdige Brechung durch diesen pseudo-naiven Ton, das liebe ich sehr. Aber man kann´s nicht dauernd hören.(lacht)

Literatur:
Rebmann, Martina, „Das Lied, das du mir jüngst gesungen…“ Studien zum Sololied in der ersten Hälfte des 19. Jhdts in Württemberg, (Europäische Hochschulschriften, Reihe 36, Bd. 216), Frankfurt/Main etc., 2002.
Schmid, Manfred Hermann(Hg.), Friedrich Silcher 1789-1860 Studien zu Leben und Nachleben, (Beiträge zur Tübinger Geschichte, Bd. 3), Stuttgart, 1989.
Schmid, Manfred Hermann(Hg.), Friedrich Silcher 1789-1860 Die Verbürgerlichung der Musik im 19. Jhdt., (Kleine Tübinger Schriften, Heft 12), Tübingen, 1989.
Weidmann, Walter (Hg.), Symposium zu Friedrich Silchers 200. Geburtstag – Eine Dokumentation, (Schriftenreihe der Bundesakademie, Bd. 7), Trossingen, 1990.

Autor: Johannes Pfeffer

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